Welche sexuelle Orientierung hat ein 45-jähriger Mann? – Artikel

WELT / Stand 14.10.2018 von Clara Ott / Redaktion Wissen

Homo-, bi- oder heterosexuell? Über 12.300 deutsche Männer im Alter von 45
Jahren haben Auskunft über ihr Sexleben gegeben. Die Ergebnisse sind zum Teil
widersprüchlich. Möglicherweise leben einige von ihnen nicht die Identität aus, in
der sie sich selbst sehen.

Die Mediziner ahnten, dass es Aufsehen geben würde. Sie hatten
deutschlandweit 45-jährige Männer zu ihrer sexuellen Identität befragt. Nun
gab es Ergebnisse, die nicht ins allgemeine Bild passen wollten: Männer, die sich
selbst als homosexuell identifizieren, die aber ab und zu mit Frauen schlafen.
Schwule Männer, die als heterosexuelle Familienväter leben. Die Männer waren mit
ihren 45 Jahren nicht mehr die Jüngsten. Doch offenbar lebten sie ihr Sexleben
nicht so aus, wie es ihrer Identität entsprach.

In den Daten der Mediziner verbirgt sich etwas, das Sexualforscher schon lange
vermuten: Die sexuelle Identität eines Menschen ist im Verlauf seines Lebens nicht
unbedingt festgelegt. Manchmal verändern sich die Vorlieben – was den
Betroffenen unter Umständen Schwierigkeiten bereitet.

Dabei wollten die Wissenschaftler ursprünglich etwas ganz anderes wissen. In vier
deutschen Großstädten hatten sie Fragebögen an Männer verteilt, mit denen sie
deren Prostata-Gesundheit erfassen wollten. Die Mediziner wollten damit
Erkrankungen wie Erektionsstörungen
( https://www.welt.de/themen/erektionsstoerung/ ) besser verstehen lernen.
Gleichzeitig hielten sie es für praktisch, die rund 12.300 Probanden nach ihren
sexuellen Erfahrungen zu befragen und danach, wie sie sich sexuell identifizierten.

Das wurde der wahre Schatz der sogenannten German Male Study (GMS)
( http://www.mriu.de/gms/ ). Im September erschienen erste Zwischenergebnisse
der Forscher im Fachblatt „Sexual
Medicine“ ( https://www.smoa.jsexmed.org/article/S2050-1161(18)30081-3/fulltext ). Es sind Daten aus den Jahren 2014 bis 2016. Bis 2035 werden
weitere Männer im Alter von 45 Jahren befragt. Am Ende werden es 50.000
Datensätze sein. Schon jetzt ist es die größte Studie zum Sexleben deutscher
hetero-, bi- und homosexueller Männer in dieser Altersklasse.

Kathleen Herkommer leitet die Langzeitstudie. Sie ist Oberärztin in der Klinik für
Urologie am Universitätsklinikum rechts der Isar der TU München. Die meisten
Angaben in den Fragebögen waren für sie und ihr Team unauffällig: Unabhängig von
ihrer Orientierung sind die meisten Männer sexuell aktiv. 85 Prozent gaben
demnach an, in den vergangenen drei Monaten mit ihrer Partnerin oder ihrem
Partner sexuell aktiv (/gesundheit/plus164224175/Zweimal-Sex-in-der-Wocheist-
Bloedsinn.html) gewesen zu sein. „Das ist schon eine hohe Prozentzahl“, sagt
Herkommer. Selbstbefriedigung war unter den 45-Jährigen weitverbreitet, vor allem
unter den homosexuellen und bisexuellen Männern. Bei ihnen hatten mehr als 90 Prozent in den vergangenen drei Monaten masturbiert, bei den heterosexuellen
Männern waren es immerhin 78 Prozent.

Fast alle heterosexuellen Männer hatten innerhalb der vergangenen drei Monate
vaginalen Verkehr, gut die Hälfte Oralsex, sieben Prozent Analsex. Erstaunlich sei,
so Herkommer, dass 91 Prozent der Homosexuellen in dieser Zeit Oralverkehr
gehabt hatten, dagegen 60 Prozent Analverkehr. Das habe man so noch nie gelesen,
sagt sie – es widerspreche der allgemeinen Annahme. Künftig wollen die Mediziner
im Fragebogen ergänzen, ob der Oralsex „gebend“ oder „nehmend“ ist. Überhaupt
seien die Arten der ausgelebten Sexualpraktiken von Männern mit 45 nie zuvor in
diesem Umfang erhoben worden.

Wie häufig die Männer Sex haben und wie sie ihn haben, sage aber nichts über die
sexuelle Identität der Männer aus, oder über ihre Zufriedenheit damit, sagt
Herkommer. Viele erlebten demnach zwischen ihrem 18. und 20. Lebensjahr eine
sogenannte Findungsphase. 95 Prozent erklärten, sich ausschließlich zu Frauen
hingezogen zu fühlen. Knapp ein Prozent bezeichnete sich als bisexuell. Als
homosexuell bezeichneten sich vier Prozent der Befragten. Ähnliche Verteilungen
hatten bereits Studien anderer Altersklassen gezeigt.

Aber dann gibt es da noch diese „Diskrepanzen“, wie Kathleen Herkommer es
nennt: Männer, die zwischen den sexuellen Neigungen zu springen scheinen. Jeder
zehnte homosexuelle Mann hatte beispielsweise in den letzten drei Monaten
vaginalen Geschlechtsverkehr. Schwule Männer, die mit Frauen schlafen, sich aber
nicht als bisexuell bezeichnen: Das war neu für die Forscher. Und ein Grund, wieso
sie die Begleitstudie jetzt veröffentlicht haben. „Es soll andere Wissenschaftler und
Ärzte auf Ideen bringen, wenn sie mit ihren Patienten sprechen“, sagt Herkommer.
Denn wer seine sexuelle Identität nicht auslebt, könne psychische Probleme
bekommen, warnt sie.

Das könnte vor allem auf eine Männergruppe zutreffen, deren Existenz die Umfrage
der Forscher nun erstmals belegt hat: Männer, die sich selbst als homosexuell
bezeichnen, aber nach außen ein heterosexuelles Leben mit Frauen und Kindern führen. „Hidden homosexuals“ nennen sie Herkommer und ihre Kollegen. Forscher
vermuteten schon lange, dass es sie gibt – doch es fehlten die Daten. Frühere
Studien aus Australien (https://research.unsw.edu.au/projects/secondaustralian-
study-health-and-relationships) und Belgien
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23741901) hatten diese Abweichung von
der sexuellen Orientierung und dem Sexualverhalten Homosexueller nicht
gefunden. Auch in der aktuellen Studie sind es nur sehr wenige Männer, die in diese
Kategorie fallen – „nur 19 aus gut 12.300“, sagt Herkommer.

Doch aus ihrem Praxisalltag als Urologin weiß sie, dass manche Männer durchaus
ein Doppelleben führen. Manche von ihnen hätten Angst um ihren Arbeitsplatz
oder vor der Reaktion der Freunde. Sich erst mit 45 Jahren oder noch später zu
outen empfinden viele vielleicht als „zu spät“. „Unter Umständen haben sie den
richtigen Zeitpunkt verpasst“, sagt die Andrologin. Ein Mann mit 45 Jahren habe
vielleicht ein Haus gebaut, sich eine berufliche Karriere aufgebaut, eine Familie
gegründet. Er hat möglicherweise Angst, all das zu verlieren, wenn er sich seinem
Umfeld gegenüber outen würde. „Vielleicht sind diese Männer in einem
Teufelskreis gefangen, gerade weil sie dieses heterosexuelle Leben führen“, sagt
Herkommer. Auch knapp zwei Prozent der Heterosexuellen gaben in der Studie an,
früher schon einmal Sex mit mindestens einem Mann erlebt zu haben. Als bisexuell
bezeichneten sich diese Männer trotzdem nicht. Wie aussagekräftig sind also die
Angaben der Männer über ihre sexuelle Identität in dem Fragebogen?

Frank Sommer hat in seiner Sprechstunde in Hamburg immer wieder Männer vor
sich sitzen, die sich nach einer anderen Sexualität sehnen. Sommer ist Präsident der
Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit und Professor für
Männergesundheit an der Universität Hamburg. Auch er warnt davor, dass die
Unterdrückung der sexuellen Identität zu Problemen führen kann –
Erektionsstörungen (/gesundheit/plus171538563/Warum-Maenner-beim-Arztso-
ungern-ueber-ihren-Penis-reden.html) zum Beispiel. Diesen Männern, sagt
er, fehlen die Reize, die eine sexuelle Anziehung und Erregung auslösen. Sei es nun
der Geruch einer Frau, eine tiefe Stimme eines Mannes oder die Berührung eines
Frauen- oder Männerkörpers.

„Manche Männer befinden sich einem Spannungsfeld“, sagt Sommer, „sie wissen
gar nicht, wie sie ihre gewünschte Sexualität ausleben können.“ Dieser Konflikt
könne bei einem Mann „zu tiefgreifenden Traumatisierungen“ führen. Manche
Männer, erzählt Sommer, erahnen ihre „homosexuelle Ader“ lediglich. Sie fühlen
sich zum anderen Geschlecht hingezogen, haben entsprechende sexuelle Fantasien,
hatten aber trotzdem noch nie homosexuellen Kontakt mit anderen Männern. Aus
Erfahrungen mit seinen Patienten weiß Sommer, dass viele dieser Männer bisexuell
sind. „Aber zwischen einer homosexuellen Orientierung und einer heterosexuellen
Orientierung gibt es sehr viele Zwischenstufen.“

Dass sich die sexuelle Orientierung sich im Laufe des Lebens ändern kann, schrieb
schon der Sexualforscher Alfred C. Kinsey in seinen Reports von 1948 und 1953.
Kinsey erstellte damals die „Kinsey Skala“, mit der die sexuelle Identität bemessen
wurde. Die Einteilung erfolgte nicht nur nach der Anzahl der sexuellen Handlungen
der Männer, sondern auch nach psychischen Erfahrungen. Auch „hidden
homosexuals“ benannte er bereits: Ehemänner „ohne wirkliche homosexuelle
Kontakte, die regelmäßig ehelichen Pflichten nachkamen“. Der Sexualforscher
vermutete, dass schon homosexuelle Wünsche und Fantasien ausreichten, um
jemandem eine Homosexualität zu attestieren. Umgekehrt hielt er fest, dass es
männliche Prostituierte gab, die eine Freundin hatten.

„Nur der menschliche Geist führt Kategorien ein“, warnte Kinsey schon damals.
Das menschliche Individuum bestehe aus „einem bestimmten Ausmaß
heterosexueller und homosexueller Erfahrungen“. Man könne, schrieb Kinsey,
Menschen höchstens zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens zu einer
bestimmten sexuellen Orientierung zuordnen. Die muss jedoch nicht für den Rest
des Lebens gelten. Die sexuelle Neigung eines Menschen sei vielmehr „fließend“.

Deshalb sei auch die Aussagekraft des Fragebogens nicht so eindeutig, wie es
vielleicht den Anschein macht, sagt die Urologin Kathleen Herkommer. „Wir
können nicht ausschließen, dass der eine oder andere etwas angekreuzt hat, was er
gerne hätte, aber was nicht der Realität entspricht.“ Das gelte sowohl für die
Sexhäufigkeit oder die bevorzugten Praktiken der Männer als auch für ihre Orientierung. Sie vermutet, dass manche Männer in dieser Altersgruppe Probleme
damit haben, gesellschaftliche Veränderungen zu verinnerlichen – wie die „Ehe für
alle“.

Ihre Langzeitstudie wird noch 17 Jahre laufen. Daten von weiteren 45-Jährigen
werden sie über die Zeit ergänzen. Einige der Männer, die bereits jetzt
teilgenommen haben, werden in 15 Jahren noch einmal befragt. Dann sind sie 60
Jahre alt. Herkommer vermutet, dass einige der Männer das Kreuz bei ihrer
sexuellen Identität dann an einer anderen Stelle machen werden.

Artikel aus WELT / 14.10.2018 

 

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