Warum sich bei uns Schwulen scheinbar alles nur um Sex dreht

Original-Artikel auf Vice: 
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Darkrooms, Grindr, Sex beim CSD: Manchmal frage ich mich, ob ich einfach zu konservativ dafür bin.

Mit meinen heterosexuellen Freunden über meine Sexualität zu sprechen, ist nicht immer leicht. Sie verstehen die Schwulenszene einfach nicht so gut. Ich kann das nachvollziehen. Ich habe von Sex mit Frauen auch wenig Ahnung. Es gibt da jedoch diese Klischees, mit denen jeder schwule Mann zu kämpfen hat. Letztens fragte mich meine Freundin Jenny: “Sag mal, in der Schwulenszene dreht sich schon viel um Sex, oder? Ist es da nicht super schwer, einen Partner zu finden?”

Ich schaute sie entrüstet an, als hätte sie ein Geheimnis ausgegraben. Dabei ist es gar keins. In der Schwulenszene dreht sich wirklich viel um Sex. Und weil ich für Berliner Verhältnisse sehr konservativ bin, setzt mich das unter Druck. Selbst meine Hetero-Freunde sind der Auffassung, ich hätte ein reges Sexleben und könne mich vor Dates gar nicht retten. Das ist aber nicht so. Ich kann mit all den Klischees nichts anfangen. Stattdessen sagen sie mir auf die eine oder andere Art: Du gehörst nicht dazu.

Also fragte ich mich, wieso dreht sich in der Schwulen-Welt so viel um Sex? Und ist das eigentlich ein Problem?

Auf dem CSD wird scheinbar mehr gebumst als demonstriert
Da wären die Dating-Apps, die vor allem auf Männer zielen, die mit Männern schlafen. Grindr, PlanetRomeo oder Scruff. In allen dreien geht es fast nur um Sex. Grindr gibt es seit 2009 und es wird weltweit von über 3,5 Millionen Männern genutzt. In meinem Leben hat es schon für einige lustige Momente gesorgt. In Meetings ist es öfter passiert, dass ein Kollege sein Handy nicht lautlos hatte und das berühmte Grindr-Brrrrup durch den Raum tönte. Dann wussten alle Eingeweihten: Da sucht jemand Sex per App. Manche schmunzelten verlegen, andere lachten. Der Umgang mit solchen Apps liegt also irgendwo zwischen Akzeptanz, Belustigung und Scham. Den Eindruck, dass es in der Community oft um Sex geht, bekomme ich aber nicht nur durch Apps.

Es gibt kaum eine schwule Party in Berlin ohne Darkroom. Auf Straßenfesten, die eigentlich ein Protest für Toleranz sein sollen, wird scheinbar mehr gebumst als demonstriert. Da wäre zum Beispiel der CSD, wo Männer in den Büschen im Tiergarten beim Cruising mehr Sex haben als in einer Schwulen-Sauna (auch hier geht’s nicht ums Saunieren, sondern um Sex). Und auch sonst ziehen sich Lack und Leder durch die schwule Welt. Um all das besser zu verstehen, habe ich mit Umut Özdemir gesprochen, Sexualpsychologe am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité Berlin-Mitte.

Die Gay Community greife auf Apps und Dating-Seiten zurück, weil das kurzfristig viele Vorteile mit sich bringe, sagt Özdemir. “Durch Online-Dating kann man eine direkte Auswahl treffen und sich gezielt diejenigen Männer aussuchen, die die eigenen Vorlieben, wie zum Beispiel Fetische, teilen”, sagt Özdemir. Online-Dating ist also zielorientiert. Und das Ziel ist oft Sex. Für manche Leute ist das nicht unproblematisch.

Karamo Brown, einer der Moderatoren von Queer Eye, sagte gegenüber der Gay Times über Dating-Apps: “Sie übersexualisieren die Community.” Dating-Apps seien großartig für One-Night-Stands, aber er könne nicht sagen, wann er das letzte Mal ein Paar getroffen habe, das sich auf Grindr oder Scruff getroffen hat und jetzt in einer Langzeitbeziehung ist.

Auch zu Pride-Paraden hat Brown eine Meinung, in der ich mich wiederfinde: “Ich konnte nie meine eigenen Kinder zu einer Parade mitnehmen – bis auf ein- oder zweimal – oder die Kinder, mit denen ich arbeite. Mit uns die Straße entlangzulaufen, um zu lernen, was es bedeutet, ein stolzes Mitglied dieser Gemeinschaft zu sein, nur um dann überall Schwänze raushängen zu sehen – das ist für 15-Jährige einfach nicht gesund.”

Pride-Paraden seien für die LGBTQ-Community eine Gelegenheit, um sich frei und nackt zeigen zu können, sagt Brown, aber nicht ausschließlich: “Ich bin dabei, weil ich erwachsen bin, aber da schauen Kinder zu.” Das Thema Sex sei wichtig, aber er wolle nicht, dass seine Kinder denken, dass es in der Community nur darum gehe.

Schwule Männer haben nicht mehr Sex als Heteros, sie reden nur offener darüber
Natürlich ist mir auch klar, dass nicht alle schwulen Männer nackt über den CSD stolzieren oder in der Öffentlichkeit Sex haben. Aber trotzdem scheinen diese Dinge am meisten zu bestimmen, wie wir von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Vielleicht ist das Problem ja gar nicht der Sex, sondern das gesellschaftliche Stigmata, das ihm noch immer anhaftet.

Sexualpsychologe Umut Özdemir sagt dazu, man könne argumentieren, dass unsere Gesellschaft es eher akzeptiert, “dass Männer sexuelles Verhalten zur eigenen Befriedigung offen zeigen dürfen und es leider immer noch befremdlich für manche wirkt, wenn das Frauen auch machen”. Ein offener Umgang mit Sex sei der richtige Weg, sagt Özdemir. Daraus schließe ich, dass Verklemmtheit hingegen zu noch mehr Verklemmtheit führt. Bin ich also einfach zu konservativ?

Ich frage jemanden, der für Offenheit, Sex und schwule Partys steht. Nina Queer. Drag Queen, Veranstalterin und Queer-Kolumnistin. Sie schmeißt in Berlin regelmäßig Partys, die vor allem mit Sex werben. Darkrooms und Live-Sex-Shows mit Pornostars gehören zum Programm. Auch einen Masturbations-Contest hat es schon gegeben. Wer zuerst ejakulierte, bekam einen Preis.

“Ich biete meinen Gästen auf meinen Partys diese Möglichkeiten an, damit jeder in irgendeiner Form ein bisschen Sex abbekommt. Egal ob er dem oberflächlichen Schönheitsideal der Szene entspricht oder nicht. Keiner sollte als Verlierer nach Hause gehen”, sagt Nina Queer. Sie schaffe auf ihren Partys sexuelle Chancengleichheit.

Aber wäre die Party nicht auch ohne den ganzen Sex eine Party? Oder erübrigt sich diese Frage, weil die Sexualisierung der schwulen Szene gar nicht das Problem ist, sondern die restliche Gesellschaft ein Problem mit Sexualität hat?

“Das hat nichts mit der Schwulenszene zu tun. Wir waren einfach – wie immer – die Trendsetter. Hatten Apps wie PlanetRomeo oder Grindr zuerst professionalisiert. Die Heten haben es uns dann ganz schnell nachgemacht und lassen es jetzt doller krachen, als wir es je getan haben”, sagt Nina Queer. “Seit Tinder, Elitepartner und Co. haben meine Freundinnen mehr Sex als ich. Es scheint so, als hätten sie nur auf den Startschuss gewartet. Jetzt holen sie 1.000 Jahre Unterdrückung und Fremdbestimmtsein nach. Ich finde es klasse, weil es so wild und frei ist.”

Es stimmt schon, irgendwie geht es bei uns Schwulen immer um Sex. Alleine schon dadurch, dass wir das Wort “schwul”, also unsere sexuelle Identität, in den Vordergrund stellen. In der heterosexuellen Welt gibt es das nicht. Mein Vater hat nie gesagt: “Ich gehe jetzt in die Hetero-Bar.” Dass Schwule es dennoch tun, hat aber auch einen Grund: Homosexualität war lange mit Scham behaftet, galt als abnormal und war verboten. Vielleicht muss all das einfach nur mal raus, wie ein großer Samenerguss.

Ja, jetzt mache ich es auch, ich sexualisiere meine Worte. Denn ich will sagen: Hallo, hier sind wir, wir Schwulen. Wir müssen uns nicht mehr schämen. Ein Mann, der in Berlin-Schöneberg in der Motzstraße eine Lederkluft trägt, macht doch auch nichts anderes, als sich auszudrücken und seine Sexualität nach außen zu tragen. Andere schwule Männer hingegen gehen anders mit ihrer Sexualität um, stiller. Da geht es jedoch immer um dasselbe. Wir tragen unsere Fantasien, Neigungen, sexuelle Orientierung, Einstellung, was auch immer, jederzeit mit uns herum – sie machen uns aus. Ich trage halt statt Lack und Leder einen Kaschmir-Pulli mit weißem Hemd darunter. Auf eine gewisse Art und Weise ist das auch ein Fetisch. Und der hat gar nicht so viel mit der schwulen Szene zu tun, sondern viel mehr mit mir als Mensch.

 

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